Sensorische Integrationstherapie -Präambel der Sensory Integration German Association SIGA zum Konzept der Sensorischen Integrationstherapie (SI)
Seit den 1960er Jahren hat das Konzept der Sensorischen Integrationstherapie (SI) innerhalb der medizinisch-therapeutischen Berufe und im Rahmen von Konzepten früher Förderung eine weite Verbreitung in Deutschland gefunden. Im Zentrum der SI steht die grundlegende Bedeutung der Sensorischen Verarbeitung für die frühkindliche und kindliche Entwicklung. Das SI-Konzept versteht sich als interdisziplinäres Konzept. Innerhalb der Ergotherapie liegt der Schwerpunkt des SI-Konzepts im pädiatrischen Bereich, es findet aber auch in der Neurologie, Psychiatrie und Geriatrie seine Anwendung. Das SI-Behandlungskonzept und dessen diagnostische Möglichkeiten entwickeln sich kontinuierlich weiter. So entsteht zwischen den SI-Lehrenden, Lernenden und Anwendern immer wieder eine anregende interdisziplinäre Diskussion zu den Vorstellungen über die Rolle und Funktionen der Wahrnehmungsprozesse für die kindliche Entwicklung. Die neurophysiologischen und neuropsychologischen Entwicklungsvorstellungen von J. Ayres und deren Zeitgenossen wurden und werden einer differenzierenden Betrachtung unterzogen.
Aktuell wird angenommen, dass Sensorische Verarbeitungsprozesse meist parallel erfolgen. Die Entstehung und Entwicklung neuronaler Netzwerke werden als Resultat genetisch determinierter, physiologischer Reifungsprozesse verstanden. Sie werden als fortschreitende Interaktion zwischen Anlage und Umwelt mittels kindlicher Eigenaktivität betrachtet. Analog dazu geht das SI-Konzept von den persönlichen und vielfältigen kontextuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten des Kindes und seiner Familie aus. Die elementare Bedeutung der Sensorischen Verarbeitungsprozesse innerhalb der frühen Entwicklung bleibt dabei unbestritten. Die Lernvorgänge eines Kindes vollziehen sich als wechselseitiger Prozess der Aneignung von Umwelt und Anpassung an die Umwelt auf der Basis des jeweiligen Entwicklungszustandes. Diese aktive Auseinandersetzung des Kindes mit den Personen und Objekten in seiner Umwelt bildet die Grundlage für die Entwicklung von sensomotorischen, kognitiven, sozialen, emotionalen und kommunikativen Fähigkeiten und Fertigkeiten.1
Für die fachlich angemessene Anwendung des SI-Konzepts sind somit zum einen entwicklungspsychologische, neurobiologische und neurophysiologische Grundkenntnisse, die zur Einschätzung der kindlichen Entwicklungsdimensionen notwendig sind, unabdingbar. Kenntnisse zu Entwicklungsrisiken, Entwicklungsauffälligkeiten und -abweichungen sowie Kenntnisse zur Resilienzforschung und Salutogenese gehören zum anderen ebenfalls maßgeblich zu den Voraussetzungen für eine angemessene Anwendung des Konzepts. Auch die Identifizierung und Einbindung kindlicher Fähigkeiten, Ressourcen und Belastungsfaktoren spielen eine wichtige Rolle im therapeutischen Prozess. Dies gilt auch für die spezifischen Einflussfaktoren innerhalb der Familie und Umwelt des Kindes.
Um die individuellen Möglichkeiten eines Kindes im Kontext seiner jeweiligen Lebenswelt beurteilen zu können, und um gemeinsam mit der Familie und dem Kind Therapieziele abstimmen zu können, bedarf es methodenspezifischer und interaktionsspezifischer Kompetenzen. Befunderhebung und Therapieplanung innerhalb des SI-Konzepts beinhalten demnach die Analyse komplexer kausaler Wirkungszusammenhänge von biofunktionellen2, psychischen und sozialen Faktoren. Die für jedes Kind und seine Familie anzuwendenden Maßnahmen ergeben sich sowohl aus Überlegungen zu den individuell biologischen Bedingungen und den jeweiligen Kontextfaktoren als auch aus den für das Kind bedeutsamen Aktivitäten und seinen Möglichkeiten zur Partizipation.3
Die Befunderhebung zur Sensorischen Verarbeitung ist Grundlage für die spezifischen Therapieangebote und für die Beratung des Kindes und seiner Familie. Diese Befunderhebung dient zur Spezifizierung beobachtbaren Verhaltens und kann je nachdem eine Zuordnung zu umschriebenen sensorischen Verarbeitungsstörungen erfahren. Sie bezieht sich nicht ausschließlich auf die Betrachtung von „bottom-up-Prozessen, sondern integriert die Analyse von „top-down-Prozessen als gleichwertige Bestandteile des Befundes. Hierbei sind neben der sensorischen Analyse kindlicher Aktivitäten auch die Einbindung sozial-kognitiver und motivationaler Bedeutungszusammenhänge wichtig.
Die Wirkung der Therapie, z.B. auf die kindliche Motivation, das Empfinden von Selbstwirksamkeit und die Stärkung des Selbstkonzepts ist wertvoll und keinesfalls zu vernachlässigen. Das Hervorbringen eigenaktiver Betätigung gehört zum Kern des Therapiekonzeptes. Die Therapieangebote zielen auf die Stärkung intrinsisch motivierter, zielgerichteter motorischer Aktivitäten, Spiele und Handlungen. Die gemeinsam festgelegten Therapieziele werden in der jeweiligen Therapieeinheit auf die momentanen Bedürfnisse des Kindes und seiner Familie abgestimmt. Dabei spielt die Übertragung der Therapieerfolge in die Lebenswelt des Kindes eine entscheidende Rolle. Die auf sensorische Angebote fokussierenden Therapieangebote sollen auf eine Stärkung praktischer und handlungsorientierter Fähigkeiten und Fertigkeiten zielen. Ein weiterer wesentlicher Bestandteil des SI-Konzepts ist die Beratung und Begleitung Angehöriger. Diese verantwortungsvolle Zusammenarbeit mit den Eltern und anderen Bezugspersonen sollte von Respekt und Wertschätzung geprägt sein. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass die spezifischen Therapie- und Beratungsangebote mit den individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen der Familie im Lebensraum des Kindes in Einklang gebracht werden können. Ein inhaltlicher Schwerpunkt der Elternarbeit ist insbesondere die Übertragung der SI-therapeutischen Inhalte in den kindlichen Alltag. Dazu ist die Vertiefung des Verständnisses der Eltern für die Bedeutung Sensorischer Verarbeitungsprozesse für alle Entwicklungsdimensionen ein wichtiges Thema.
1 Dieses Lernprinzip gilt lebenslang für den Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ohne eine
aktive sensorische Auseinandersetzung mit Objekten und Umwelt nicht denkbar sind, wie z. B.
Umgang mit Geräten, Werkzeuggebrauch usw.
2 Marotzki (2004): Zwischen medizinischer Diagnose und Lebensweltorientierung, eine Studie zum
professionellen Arbeiten in der Ergotherapie, Wissenschaftliche Schriften im Schulz-Kirchner-Verlag,
Idstein; Reihe 7 Beiträge zur Psychologie, Bd. 107.
3 Analog zu klientenzentrierten Ansätzen innerhalb ergotherapeutischer Modelle erfolgt die Integration
bio-funktioneller Sichtweisen in eine umfassende Analyse der Gesamtsituation des Kindes, wie sie
sich z. B. in der Anwendung der ICF oder der Entwicklung der ICIDH-2 widerspiegeln.
Präambel der SIGA
Richtlinien Revidierter SI-Weiterbildungslehrgang/SIGA (Stand 07/2020)